Der Zweirad-Industrie-Verband führt Veranstaltungen für verschiedene Themengebiete durch und hat bei der Fahrradtechnik mit Abstand den größten Zulauf. Es hätte also nicht einmal der Öffnung für Nichtmitglieder bedurft, um den Tagungsort voll und hat bei der Fahrradtechnik mit Abstand den größten Zulauf. Es hätte also nicht einmal der Öffnung für Nichtmitglieder bedurft, um den Tagungsort vollständig auszulasten - es konnten nicht alle Anmeldungen berücksichtigt werden. Deshalb wird der ZIV das Berliner Umspannwerk voraussichtlich verlassen und für 2026 einen Ort mit größerer Kapazität buchen.
»Der Dauerstau beschert uns neue Nutzergruppen ohne Erfahrung.«
Patrick Henkel
Tim Salatzki, der Cheftechniker des ZIV, stellte in seinem Eröffnungsvortrag das veränderte Nutzungsverhalten dar. Als Fallbeispiel nahm er sich selbst, zeigte seine »Karriere« in Bildern, beginnend beim kleinen Tim mit seinem ersten Kinderrad. Er landete bei naheliegenden Fragen: Wenn jemand ein Elektrorad besitzt und eine Familie gründet, ist es dann möglich, daran einen Kinderanhänger anzudocken? Beim S-Pedelec ist es rechtlich nicht möglich, aber auch beim Pedelec 25 stellen sich Fragen. Was also muss der Hersteller bei der Konstruktion eines Elektrofahrrades berücksichtigen und bedenken? Muss er auch Vorkehrungen für den Fall treffen, dass das Fahrrad nicht gewartet wird?
Vom Freak zum Sorglosfahrer
Wer nutzt was wie? Diese Frage gab Salatzki einer vierköpfigen Gesprächsrunde mit auf den Weg, wo die Experten Wesentliches herausarbeiteten. Dirk Zedler hat das Geschehen aus der Perspektive des Prüfers und Sachverständigen über mehrere Jahr- zehnte hinweg beobachtet. Er sieht eine Verschiebung bei den Nutzergruppen.
Früher waren Radsport-Freaks das Maß der Dinge. Sie hatten die höchsten Ansprüche ans Produkt; daran richtete man sich aus. Heutzutage bringt die Pedelec-Nutzung neue und andere Herausforderungen mit sich. Zwar sind viele Menschen unterwegs, die nicht aus eigener Beinkraft das Fahrrad hart beanspruchen - das ergibt sich erst in Kombination mit der Motorkraft.
Dafür nehmen sie ungeheuer viel mit und treiben die Zuladung hoch; Zedler nannte den Campingkocher als Beispiel. Der Motor nimmt die Angst, nicht mehr voranzukommen. Oft sind durchschnittliche Pedelec-Fahrer auch gedankenlos: Sie laden nicht nur fröhlich zu, sie fahren auch sorglos, nutzen die Schaltung wenig, überfahren Straßenbahnschienen, Kopfsteinpflaster und Bordsteinkanten bisweilen unvorsichtig.
Gebrauch und Nutzergruppen
An Letzteren könnten die Belastungen höher sein als bei der Downhillfahrt eines geübten Bikers, sagt Markus Riese, der Mitgründer von Riese und Müller: »Früher sprachen wir vom naheliegenden Fehlgebrauch, heute sprechen wir vom naheliegenden Gebrauch. Den müssen Hersteller antizipieren.« Außerdem sind bei elektrifizierten Alltagsrädern Jahreskilometerleistungen von 15.000 Kilometern keine Seltenheit. Er wies auch auf besondere Fahrradkarrieren hin, denn längst nicht mehr alle würden das Radfahren von der Pike auf lernen wie Tim Salatzki. »Da gibt es Menschen, die bisher gar nicht Fahrrad gefahren sind und plötzlich ein Lastenrad kaufen.« Das konnte Patrick Henkel von Vitbikes bestätigen: »Neue Nutzergruppen entstehen auch aus der Not heraus. Der Dauerstau auf dem Weg zur Arbeit führt viele Neukunden in Fahrradgeschäfte.« Aber auch jugendliche würden auf das Lastenrad steigen, beispielsweise weil sie ihre Geschwister aus der Kita abholen, weiß Markus Riese. Solche Erkenntnisse müssten in die Auslegung der Fahrzeuge einfließen: »Wir Hersteller sind in der Pflicht, den Markt laufend zu beobachten.«3
Fachhandel in Mittlerrolle
Dem Fachhandel komme hier eine wichtige Rolle zu, sagt Henkel, denn hier werde der Bedarf festgestellt - sorgfältig und im Detail, um nicht nur das passende Fahrrad zu ermitteln, sondern ebenso richtige Ausstattung und Zubehör. Durch die hohen Pedelec-Preise würden auch die Erwartungen ans Produkt steigen, »allerdings geht auch bei einem Porsche mal was kaputt«. Er unterstrich, dass neben dem Nutzungsverhalten die Pflege eine Rolle spiele: »Die Herausforderungen steigen.« Zedler bekräftigte das, denn er erstellte schon Gutachten wegen Kettenrissen, »wo drei Tropfen Öl genügt hätten, um einen Rechtsstreit zu vermeiden«. Aus diesem Grund gibt es bei Vitbikes eine längere Einweisung zur Behandlung des neuen Fahrrades bei Übergabe, die durchaus 30 bis 45 Minuten dauern kann. Ob sich die Endverbraucher alles merken, ist eine gute Frage, aber man kann sich die Einweisung zumindest quittieren lassen.
»Manchmal hätten drei Tropfen Öl gereicht, um einen Rechtsstreit zu vermeiden.«
Dirk Zedler
Fahrradeignung präzisieren
Dirk Zedler hatte die volle Aufmerksamkeit des Plenums spätestens bei seinen Ausflügen in die Rechtsprechung. In Schottland wurden einem querschnittsgelähmten Kläger 5,3 Millionen Euro Schadenersatz zugesprochen, vermutlich die höchste Summe, die jemals an einen Fahrradgeschädigten ging. Rechtsanwälte würden aufgrund der hohen Streitwerte immer erfinderischer. Der Sachverständige hält es für unabdingbar, zu definieren, wofür ein Fahrrad gebraucht werden darf und wofür nicht. Dass nicht dafür ausgelegte Fahrräder im unwegbaren Gelände genutzt werden, ist nicht immer zu vermeiden, aber der Hersteller muss dergleichen je nach Fahrradtyp ausschließen, diesen Ausschluss glasklar kommunizieren und die Kommunikation nachweisen können. Kategorien müssen entsprechend definiert werden. Die Experten sind sich auch einig, dass der Aktionsradius von Gravelbikes präzise beschrieben werden muss. Zedler warnte deshalb auch vor irreführender Werbung, also beispielsweise der Suggestion: »Mit diesem Bike ist jedes Gelände dein Freund.« Die eierlegende Wollmilchsau gibt es ohnehin nicht. Am Ende ist es der Dreiklang aus Eignung, Nutzung und Pflege, der über die Produktsicherheit entscheidet.
Wissenschaft und Technik
Die Produkte müssten nach dem Stand von Wissenschaft und Technik gestaltet sein, sagte Zedler, während sein Berufskollege Ernst Brust dafür plädierte, in den Laboren das verwendungsfertige Ganze zu testen und nicht nur einzelne Bauteile. Als Mittelweg werden oft Baugruppen getestet, um die Vielfalt von Modellvarianten im Prüfwesen handhaben zu können. Zedler stimmte auch Wölks Forderung nach längeren Modellzyklen zu, damit Produkte sorgfältig entwickelt werden können. Der Entwickler von Fahrwerker, Jochen Coconcelli, stellte in einem eigenen kompakten Vortrag nach der Podiumsdiskussion die Forderung auf, Komponenten speziell für bestimmte Anwendungen zu entwickeln, anstatt bei Kinderrädern und Schwerlastenrädern die gleichen Bauteile einzusetzen.
Herausforderung bei Entwicklung
Entwickler Timo Wölk lenkte den Fokus auf die sich mit aufrecht sitzenden Bikern verändernde Radlastverteilung, und sieht Bedarf, Lastkollektive für das Testen von Fahrrädern und Rahmen regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Beim Lastenrad werde die Technik nochmals komplexer mit 20-Zoll-Rädern, Gelenken und anderen Rahmenbedingungen, woraus erheblicher Forschungsbedarf resultiere.
Allerdings fragt man sich, auf welche Belastungsszenarien ausgelegt werden soll. Bricht ein Motorbracket, weil eine Schraube nicht fest angezogen war und der Motor an den beiden anderen Schrauben hing, stellt sich die Frage: Muss man in der Entwicklung auch korrektes Anziehen von nur zwei statt drei Schrauben berechnen?
Akzeptanzdefizit bei Sicherheits-Features
Markus Riese ist sehr enttäuscht von der niedrigen Akzeptanz von Sicherheits-Features im Markt. Das ABS finde extrem wenig Anklang. Tatsächlich sind auf der Bosch-Website viele Modelle mit serienmäßigem ABS aufgelistet, aber offenbar werden Modelle ohne ABS viel häufiger gekauft. Er plädiert sogar dafür, Rennräder grundsätzlich mit Licht auszustatten: »Da gibt es so elegante integrierte Lösungen, dass niemand behaupten kann, das Rennrad werde verschandelt. Selbst die Tour de France führt durch den einen oder anderen Tunnel.« Solche Themen interessieren beispielsweise Verkehrssicherheitskreise, daher ist eigentlich proaktives Handeln der Industrie gefragt. Die Frage aus dem Plenum, ob ABS oder Beleuchtung am Rennrad in die StVZO gehören, verneinte Riese: »Es ist auch nicht praktikabel, beispielweise ABS am Kinderrad haben zu müssen.« Er denkt eher an eine Selbstverpflichtung oder Willenserklärung der Industrie.
Reklamationserfassung tut not
Dirk Zedler mahnte zudem stringentes Reklamationsmanagement an. Hersteller müssten die Fehlerberichte sammeln und Häufungen früh erkennen, um gegenzusteuern. Der Aufstieg von Direktvermarktern wie Canyon, Rose und Radon sieht er zum Teil darin begründet, dass Mängelanzeigen direkt beim Hersteller landen würden und dort dann systematisch ausgewertet werden könnten. Bei Marken, die über den Fachhandel laufen, kommt diesem die Bedeutung zu, relevante Informationen umfassend und gezielt weiterzuleiten. Als positives Beispiel wurde eine Cloud-Plattform von Riese und Müller hervorgehoben, wo die Handelspartner sehr leicht detaillierte Mängelberichte hinterlegen können. Markus Riese plädiert jedenfalls für einen nahtlosen und automatisierten Informationsfluss zwischen Handel und Lieferanten. Bei dem Premiumhersteller aus dem Raum Darmstadt, dessen Gründer Ingenieure sind, zieht man aus solchen Unwägbarkeiten einen vernünftigen Schluss: Die Zuverlässigkeit und Langlebigkeit eines Produktes ist nicht nur das Ergebnis der richtigen Konstruktion, sondern auch einer sauberen Produktion - und das konstant. Dort digital wird festgehalten, ob alle Schrauben richtig angezogen sind; dass die eingesetzten Drehmomentschrauber digitaler Art sind, bedurfte keiner Erwähnung.
Batterierücknahme ungenügend
Bei parallelen Vorträgen in kleinerer Runde ging es beispielsweise um das Akkurücknahmesystem. Tobias Schulze-Wettendorf von der GRS Batterien Service GmbH (Gemeinsames Rücknahmesystem Servicegesellschaft) erläuterte die Funktionsweise: Das System ist von den Herstellern finanziert, die Rücknahme erfolgt über den stationären Handel, für den damit keinerlei Kosten verbunden sind - für Endverbraucher ebenfalls nicht. Die von GRS gestellten Sammelboxen werden in den Läden aufgestellt und dort wieder abgeholt, wenn sie voll sind.
Das System funktioniert; GRS und ZIV feierten auf der letzten Eurobike das 15-jährige Bestehen des Konzepts. Trotzdem gibt es ein großes Problem: Die Rücknahmequote ist viel zu gering; die von der EU geforderte Sammelquote von 51 Prozent der in Verkehr gebrachten Batterien bis 2028 ist derzeit in weiter Ferne. Von Seiten des ZIV ist Wirtschaftsreferentin Katarina Hinse mit dem Thema befasst. Gemeinsam mit Schulze Wettendorf sucht sie nach Ursachen und Lösungen. Auf jeden Fall werden weitere Fachbetriebe für die Aufstellung von Sammelboxen gesucht; außerdem soll die Möglichkeit der Batterieabgabe noch bekannter gemacht werden.
Einheitliches Ladesystem?
Der Workshop von Tim Salatzki zu einem möglichen einheitlichen Ladesystem sollte ein Meinungsbild in dieser Frage ergeben. Dieses ist nicht nur in der Batterieverordnung erwähnt (2023/1542), sondern es gibt hier auch eine plakative Forderung der Deutschen Umwelthilfe - und deren Wirkmacht ist spätestens seit dem Dieselskandal bekannt. Warum sollte bei Elektrorädern etwas nicht funktionieren, was bei Smartphones bereits umgesetzt wurde, nämlich die einheitliche Ladebuchse? Eine öffentliche Diskussion über angeblichen Ladewildwuchs werde von interessierter Seite aus versucht am Laufen zu halten, war der Tenor. Dabei werde auch die Notwendigkeit einer öffentlichen Ladeinfrastruktur behauptet, obwohl diese dort, wo vorhanden, kaum genutzt werde. Außerdem würden neue stärkere Akkus den ganzen Tag halten.
USB-C statt Energy Bus?
Eine kontroverse Debatte entspann sich um den Energy Bus. Einzelne Teilnehmer brachten ihn als Standard ins Gespräch, andere waren dagegen; manche plädierten für den USB-C-Standard. Es geht vor allem um die Frage, ob man den einheitlichen Stecker proprietär oder komplementär einführen will. Komplementär würde heißen, dass man beispielsweise den USB-Stecker nur zusätzlich zum vorhandenen Ladesteckplatz einsetzt. Das fände beispielsweise Markus Riese einfacher. Marcus Schneider von SRAM plädierte dafür, dass der ZIV die Diskussion von vorn führt, also selbst Anforderungen und Ideen sammelt, einen Lösungsvorschlag erarbeitet und bei der Politik einbringt, ehe von anderer Seite ein unpraktikabler Vorschlag eingebracht werde.
Weitere Themen und Ausblick
Das Erkennen und Verhindern des Tunings von EPACs (Electrically Power Assisted Cycles) war ein weiteres Thema, worüber Hauptkommissar Antonio Fusco von der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg sprach. Wie Körpermaße und aktuelle Ergonomietrends die Fahrrad- und Komponentenentwicklung beeinflussen, erklärte Dr. Gerd Küchmeister, Lehrbeauftragter im Fachbereich Maschinenwesen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kiel (HAW). Mit Einführung der Technik-Konferenz im Jahr 2023 hat der ZIV eine Lücke geschlossen. Frühere Formate für professionelle Technikexperten, wie das Essener Fahrradforum, liegen schon mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Die hohe Nachfrage zeigt den Wunsch nach fachlicher Information. Mehrere Teilnehmer sagten in Berlin, sie könnten sich auch noch mehr in die Tiefe gehende Vorträge und Workshops vorstellen. Die bestehende Tagesstruktur mit allgemeinen Vorträgen zu Beginn und parallelen Vertiefungen im Anschluss bietet dafür den geeigneten Rahmen.
Text: Michael Bollschweiler