Um Missverständnisse von vornherein auszuschließen: Es ist eine wirklich sehr gute Sache, dass es diese Norm gibt. Würden alle Fahrräder am Markt nach Norm geprüft, gäbe es weniger Reklamationen, Schadenfälle oder gar Rückrufe. Andererseits sollte sich jeder Anwender der Norm jedoch bewusst sein, dass er trotz bestandener Prüfungen keine ausreichend sicheren Fahrräder am Markt bereitstellt.
Das sieht im Übrigen auch die Gesetzgebung und Rechtsprechung in vielen Ländern so. Jeder Hersteller muss sich daher Gedanken machen, wie er für seine Zielgruppe prüft, um die normativen Mindestanforderungen zu erhöhen bzw. die Prüfungen zu ergänzen.
Neue Prüfungen
Positiv ist, dass mit der überarbeitenden Ausgabe Rahmen umfangreicher zu testen sind. Die Bremsaufnahme muss nun dynamisch auf Ermüdung und mit Überlast geprüft werden. Noch gravierender sind die Ergänzungen bei Gabeln aus Carbon. Die längst überfällige Prüfung des Gabelschaftes aus Verbundwerkstoff wurde ebenso hinzugefügt, wie die Prüfung der Wärmestandfestigkeit der Bremsaufnahme.
Bei Laufrädern wurden die Stoßprüfungen, vergleichbar zur Prüfung der UCI, hinzuaddiert und die Prüfung von Lenkerstopfen als Bauteil gänzlich neu aufgenommen.
Die erfahrungsgemäß in der Branche gerne vernachlässigte, aber ebenso aus der Erfahrung heraus dringend notwendige Straßenprüfung kompletter Fahrräder, wurde um den Punkt Lenkerflattern aufgewertet.
Im Detail spezifiziert
Gearbeitet hat der Normenausschuss auch erfolgreich an der besseren Festschreibung von Prüfbedingungen, so z.B. hinsichtlich der Prüfkörper bei Pedalen, dem Dummy bei Sattelstützenprüfungen und der Ausrichtung der Kurbeln bei der dynamischen Ermüdungsprüfung unter 45°.
In der Vergangenheit war hier viel Interpretationsspielraum, der im realen Testbetrieb zu ziemlichen Abweichungen in den tatsächlichen Hebeln und damit Belastungen während der Prüfung führte.
Unverständlich ist im Gegenzug, dass das zu prüfende Mindestdrehmoment von Schrauben reduziert wurde. Die lediglich 120 % sind im Grunde keine verlässliche Prüfung des vorhersehbaren Gebrauchs. Hier ist der Rat, die Norm zu prüfen und darüber hinaus im zweiten Schritt die bewährten 150 % des maximalen Drehmomentes ergänzend anzulegen.
Gefährliche Handlungsanweisungen anderer Normen nicht übernommen
Absolut im Dienst der Sache ist auch, dass Absatz 4.3.1.3 „Anzahl und Zustand der Prüflinge für die Festigkeitsprüfungen“ der unter der EU-Maschinenverordnung harmonisierten EN 15194:2018 nicht übernommen wurde. Dort steht: „Im Allgemeinen müssen statische, dynamische und Stoßprüfungen jeweils mit einem neuen Prüfling durchgeführt werden…“. Man muss nun wirklich kein Raketenwissenschaftler sein, um festzustellen, dass dies hochgefährlich ist. In der Praxis hat derartiges Vorgehen nicht nur wiederholt zu Unfällen mit Verletzungsfolge geführt, sondern auch zu Rückrufen.
Einfach erklärt am Beispiel des zentralen Rohrs eines Tiefeinsteiger-Rahmens, auch Unisex genannt: Beim Bremsen und bei Fahrbahnstößen wird das zentrale Rohr gebogen, beim Treten tordiert. Genau diese Überlagerung kann keine Prüfmaschine abbilden, wenn man horizontale und pedalierende Kräfte an verschiedenen Rahmen prüft.
Hauptkritikpunkte nicht beseitigt
Trotz der mittlerweile 25-jährigen Evolution, die Norm basiert schließlich auf der deutschen DIN 79100 vom Ende der 1990er Jahre, werden Fahrradhersteller noch immer im wichtigsten Punkt allein gelassen: Bei der genauen Beschreibung des Anwendungsbereichs. Nach wie vor sind keine zulässigen Gesamtgewichte angegeben. Branchenüblich hat es sich eingebürgert, davon auszugehen, dass die in der Bremsprüfung wiederholt erwähnten 100 kg aufs gesamte Regelwerk übertragen werden können, doch explizit wird das nicht benannt. Ebenso sind die Ansätze kategoriespezifischer Prüfungen nur rudimentär und nicht im Einklang mit den Kategorien einer seit Jahren etablierten ASTM oder der etwas jüngeren, aber dennoch nicht vollständigeren EN 17406 „Klassifizierung von Nutzungsbedingungen von Fahrrädern“.
Weiterhin erfolgte keine Gleichschaltung von Prüflasten und Lastzyklen innerhalb von Baugruppen – trotz unserer wiederholt eingereichten Vorarbeit im deutschen Normenausschuss. Am Beispiel von Sattel, Sattelstütze und Rahmen exemplarisch erklärt:
Die dynamische Prüfung des Sattels soll generell mit 200.000 Lastwechseln und 1.000 Newton (N) erfolgen, unabhängig von der Kategorie.
Eine Sattelstütze soll dagegen lediglich mit 100.000 Lastwechsel und 1.000 N bei Jugend-, City- und Trekkingbikes bzw. 1.200 N bei Rennrad und MTB dynamisch geprüft werden.
Nochmals reduziert ist die vertikale Prüfung des Rahmens auf lediglich 50.000 Lastwechsel und 500 N bei Jugend-, 1.000 N bei City- und Trekkingrädern bzw. 1.200 N bei Rennrad und MTB.
Das verstehe wer will.
Der Blick nach vorn
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Geprüft nach Norm schützt vor Schaden nicht. Der Dreiklang aus Normerfüllung, betriebssicheren Fahrrädern und Enthaftung für den Hersteller im Kontext mit Prüfen, erfordert eine Menge Gedanken. Glücklicherweise gibt es Profis, deren Job genau das ist und die viel Erfahrung gesammelt haben. Gute Prüfhäuser beobachten Veränderungen in der Nutzung von Fahrrädern, Schadenfälle in der Praxis und Entwicklungen in der Rechtsprechung genau. So können deren Ingenieure fehlende Lastarten einpflegen, nicht zusammenpassende Lasthöhen und Lastzyklen intelligent auffangen und höhere zulässige Gesamtgewichte sowie die spezifischen Fahrrad-Kategorien im Detail für noch haltbarere und sichere Fahrräder der Zukunft berücksichtigen.
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